Tourismus in Entwicklungsländern

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Schnell, die Kamera! Die Zeit ist knapp, das Motiv im Vorbeifahren einzufangen. Zwei Ziegen sind jeweils auf einem Holzgestell auf dem Gepäckträger eines Fahrrades angebunden. Die Ziegen machen den Eindruck, als wären sie diese Art des Transports gewöhnt. Einen Augenblick später kämpft sich ein Mann mit einem riesigen Holzstapel auf dem Gepäckträger seines Rades einen Hügel hinauf. Momente, die mir noch lange nach der Reise im Gedächtnis bleiben.

In Malawi dienen Fahrräder als Transportmittel für Ziegen.
In Malawi dienen Fahrräder als Transportmittel für Ziegen.

Tourismus in Entwicklungsländern

Warum fasziniert es uns Menschen aus Industrienationen, in einem Entwicklungsland Urlaub zu machen? Ist es der Wunsch, sich „interessant zu reisen“? Ist es die Sehnsucht nach exotischen Erlebnissen fern vom beruflichen Alltag oder die Suche nach authentischen Menschen und intakter Natur? Ist es überhaupt okay, in Ländern Urlaub zu machen, in denen die Menschen mit weniger als einem US-Dollar täglich leben?

Der Tourismus weltweit boomt und ist einer der größten Wirtschaftszweige überhaupt. Auch Entwicklungs- und Schwellenländer haben bereits erhebliche Marktanteile – Tendenz steigend. Und das Spannende ist, dass sich zukünftig diese Länder zum treibenden Motor für das weitere Wachstum der Branche entwickeln werden. Schon heute ist der Tourismus für jedes dritte Entwicklungsland die Haupteinnahmequelle für Devisen.

Was bringt es dem Reisenden?

Manche Fernreisenden zum Beispiel haben den „Afrika-Virus“. Man sagt, wenn man ihn hat, wird man ihn nicht mehr los. Auf diese Menschen übt Afrika eine magische Anziehung aus, sie reisen immer wieder dorthin. Verständlich, denn die Erlebnisse sind einzigartig. Die vielfältige und oftmals noch intakte Natur und Tierwelt sind großartig und in unseren Breiten nicht zu finden. Die Kultur ist häufig noch unverfälscht, und die Menschen sind sehr freundlich und liebenswert.

Wer gerne individuell und abseits des Massentourismus seine eigenen Erfahrungen sucht, ist hier genau richtig. Wo hat man heute noch die Gelegenheit, in kleinen, geschmackvollen und individuell geführten Unterkünften zu wohnen und die Natur sowie die Kultur und Sehenswürdigkeiten in aller Ruhe zu genießen? Ja hier – in Entwicklungsländern! Nicht ohne Grund wurde beispielsweise das kleine afrikanische Land Malawi vom Reiseverlag Lonely Planet im Jahr 2014 als eine der Top 10 Reisedestinationen weltweit prämiert.

Was bringt Tourismus einem Entwicklungsland?

Der Tourismus ist durch seinen Multiplikator-Effekt eine Job-Maschine, insbesondere auch für gering qualifizierte Mitarbeiter. Die notwendige Infrastruktur wie Flughäfen, Marinas, Wildreservate, Straßen, Shoppingmalls und Restaurants würden ohne Touristen nicht in diesem Umfang gebaut werden. Von der verbesserten Infrastruktur profitieren auch die Einheimischen. Tourismus induziert ein Wachstum der lokalen Wirtschaft, wie Handwerk, Nahrungsmittelproduktion und Kunsthandwerk. Ohne Touristen kommen nicht die dringend notwendigen Devisen ins Land.

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Anstelle von Ziegen transportieren die Einheimischen auch gerne Brennholz auf dem Fahrrad.

Tourismus ist oft dort, wo sonst nicht viel wäre. Dünnbesiedelte Regionen sind für andere Wirtschaftszweige wenig attraktiv, für touristische Aktivitäten wie Bade-, Abenteuer-, Trekking-, Wüsten-, Jagd-, Tierbeobachtungs-, Ethno- und Öko-Tourismus sind sie meist ideal. Tourismus finanziert so in Entwicklungsländern häufig den Umwelt- und Artenschutz: Die Gründung von Naturparks oder Wildreservaten schützt die Natur und die Wildtiere und erhält damit die Biodiversität. Zudem stärkt es das Umweltbewusstsein und Umweltverhalten der lokalen Bevölkerung.

Schadet Tourismus einem Entwicklungsland?

Vieles, aber längst nicht alles ist gut! Klar, Tourismus generiert Devisen, bekämpft die Armut und schafft Arbeitsplätze. Führungs- und gut bezahlte qualifizierte Positionen besetzen aber im allgemeinen Ausländer. Traditionelle Wirtschaftszweige werden im Zuge der touristischen Entwicklung oft vernachlässigt. Die Landwirtschaft bietet weniger attraktive Arbeitsplätze, es folgen die Verödung von Agrarflächen und manchmal auch Nahrungsmittelknappheit. Lebensmittel müssen importiert werden und folglich fließen die mühsam erwirtschafteten Devisen wieder ab. Die Lebenshaltungskosten und Immobilienpreise in den Touristenregionen steigen zum Nachteil der einheimischen Bevölkerung. Häufig nehmen Kinderarbeit und Prostitution zu. Gewachsene soziale Strukturen verändern sich oder zerfallen sogar. Insgesamt wächst die Abhängigkeit vom Tourismus und wenn aufgrund politischer Instabilität, Naturkatastrophen oder terroristischen Anschlägen die Touristen ausbleiben, ist man wieder da, wo man angefangen hat – bei fast Null.

Das Interesse an nachhaltigem Tourismus nimmt zu. Aber viele Urlauber glauben weiterhin, dass gute Wasserqualität, saubere Luft oder ein reichhaltiger Waldbestand „öffentliche Güter“ sind, für die sie ja bezahlt haben und nicht verantwortlich sind. Das Gleiche gilt für die CO2-Emissionen, die eine solche Fernreise verursacht. Die größte Gefahr besteht aber in einer Überbeanspruchung der natürlichen Ressourcen. Massentourismus zerstört die einmalige Natur und Kultur – Landschaft wird zersiedelt, Müllberge entstehen, traditionelle Kulturveranstaltungen wandeln sich in kommerzialisierte Folklore-Shows.

Aktive Entwicklungshilfe durch Dritte-Welt-Reisende?

Also, was ist nun richtig? Ist es okay, in ein Entwicklungsland zu reisen? Entwicklungsländer, die Armut mit Hilfe des Tourismus bekämpfen wollen, befinden sich in folgendem Dilemma:

  • Touristen suchen immer mehr eine ökologisch intakte Natur und möchten landestypische Kulturen kennen lernen bzw. Authentizität fühlen und erleben,
  • Touristen schätzen zunehmend die Individualität und Exklusivität von Erlebnissen,
  • viele Entwicklungsländer bieten diese Voraussetzungen und sind daher eine ideale Destination für Fernziel-Reisende Individualtouristen,
  • behutsamer Tourismus auf kleiner Basis schafft es aber nicht, die Armut eines Landes wirksam zu bekämpfen,
  • Massentourismus auf breiter Basis zerstört die natürlichen und kulturellen touristischen Ressourcen von denen der touristische Erfolg abhängt.

Allerdings ist fortbleiben auch keine echte Alternative. Was also tun? Die Antwort kann nur eine nachhaltige Entwicklung des Tourismus sein. Ökonomische, ökologische und soziokulturelle Komponenten müssen bei jeder touristischen Entwicklung, vor allem in Entwicklungsländern, von Anfang an im Gleichgewicht gehalten werden.

Wir als Touristen sollten uns in den Entwicklungsländern nicht als Wohltäter, sondern als Gäste fühlen und uns auch dementsprechend verhalten. Wir müssen begreifen, dass es ein Privileg und kein bezahltes Anrecht ist, die Natur, Kultur und Menschen eines fremden Landes kennen zu lernen. Die Ressourcen des Gastlandes schonend und nachhaltig zu nutzen, muss einfach zur Selbstverständlichkeit werden. Nur Respekt und gegenseitiges Verständnis erlauben es dem Dritte-Welt-Reisenden mit seiner Reise direkt und indirekt Entwicklungshilfe zu leisten. Gleichzeitig kann man so für sich persönlich eine reiche Reiseerfahrung mit vielen wertvollen Momenten mit nach Hause nehmen.

Ulla Sehrt arbeitete nach ihrem Universitäts-Abschluss zur Diplom-Geologin mehrere Jahre als Redakteurin bei einem Fachzeitschriftenverlag. Während ihrer langjährigen Tätigkeit als Pressereferentin und Marketingleiterin in der Industrie studierte sie nebenberuflich Kommunikationsmanagement mit den Schwerpunkten Internationale PR und Marketing. Seit einem Auslandsaufenthalt in Südafrika betreibt sie ihr eigenes PR-Büro. Aus Interesse am Thema Tourismus absolvierte Ulla Sehrt ein weiterbildendes Studium an der FH-Schmalkalden in Kooperation mit dem IST-Studieninstitut und dem Abschluss als Tourismusbetriebswirtin (FH).

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